Frauen und HIV – gezielte Forschung ist notwendig
Ende 2020 lebten in Deutschland etwa 17.300 Frauen mit HIV, das sind fast 20% der insgesamt 91.400 HIV-positiven Menschen. Der Frauenanteil an den geschätzt 2.000 Neuinfektionen im Jahr 2020 betrug ca. 21%. von den ca. 2.600 Erstdiagnosen betrafen (Quelle: RKI 2021). International sieht die Situation für Frauen anders aus: Weltweit sind 50% der Menschen mit HIV weiblich, in den meisten europäischen Ländern sind es 30% oder mehr.
Einer HIV-Forschung, die medizinische und psychosoziale Besonderheiten von Frauen berücksichtigt, wurde weltweit in den vergangenen Jahren mehr Gewicht beigemessen. Nach wie vor gibt es aber immer noch mehr offene Fragen als befriedigende Antworten.
Noch immer sind HIV-positive Frauen in Studien häufig unterrepräsentiert. Wichtige Geschlechtsunterschiede und frauenspezifische Besonderheiten können so häufig kaum ausreichend untersucht werden. Die Übertragbarkeit der in internationalen Studien gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegebenheiten in Deutschland ist wegen erheblicher Unterschiede im Bereich kultureller Hintergründe, materieller und sozialer Lebensbedingungen und divergierender medizinischer und psychosozialer Versorgungssysteme nur bedingt möglich.
Die antiretrovirale Kombinationstherapie ist bei Frauen bei gleichem Zugang zur Behandlung ebenso wirksam wie bei Männern. Dennoch besteht nach wie vor dringender Forschungsbedarf hinsichtlich einer ganzen Reihe von Fragestellungen, z.B.:
- Mit zunehmender Dauer der antiretroviralen Behandlung werden Nebenwirkungen der Therapien und/oder Folgeerscheinungen der HIV-Erkrankung häufig zum Thema. Geschlechtsunterschiede wurden bei Nebenwirkungen, Syndromen und Erkrankungen wie Fettstoffwechselstörungen, Lipodystrophie und Lipoatrophie, Osteopenie/Osteoporose, kardiovaskulären oder Lebererkrankungen, Nierenfunktionsstörungen oder allergischen Hautreaktionen festgestellt. Ursachen, Ausprägung und Behandlungsmöglichkeiten müssen dringend geschlechtssensibel untersucht werden.
- Einflüsse sowohl der antiretroviralen Medikamente als auch der HIV-Infektion auf das endokrinologische System von Frauen und Wechselwirkungen zwischen diesen bleiben weitgehend unerforscht. Viele Fragen rund um Zyklus, hormonelle Kontrazeptiva oder die Menopause können bisher nicht zufriedenstellend beantwortet werden.
- Nebenwirkungen gehen nicht nur mit körperlichen, sondern häufig auch mit erheblichen psychologischen und psychosozialen Beeinträchtigungen einher. So leiden Frauen z.B. häufiger unter Depressionen. Auswirkungen auf Adhärenz und Therapieentscheidungen werden im klinischen und beraterischen Alltag häufig beobachtet. Eine Berücksichtigung dieser Aspekte in prospektiven, längerfristigen Studien und auch die Entwicklung von adäquaten Unterstützungs- und Behandlungsansätzen ist dringend erforderlich.
- Seit Beginn der HAART-Ära wurde die Erforschung psychosozialer Aspekte wie Lebensqualität, Krankheitsbewältigung, sexuelle und reproduktive Gesundheit und gesundheitsfördernde Maßnahmen bei Frauen weitgehend vernachlässigt. Die Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Frauen und die Wahrung ihrer Rechte schließt die Sicherung des Zugangs zu modernen Präventionsstrategien wie z.B. der Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP) ebenso ein wie die Integration der Beratung zur Familienplanung in die Versorgung. Dazu gehört auch die Sicherstellung des Zugangs zu Verhütungsmitteln und –methoden, Kondomen und Frauenkondomen. Auch im Bereich HIV und Kinderwunsch, Schwangerschaft und Stillen gibt es noch viele offene Fragen. Hier besteht ein dringender Bedarf an psychosozialer/sozialwissenschaftlicher und biomedizinischer Forschung. Diese kann die Entwicklung angemessener und wirksamer Unterstützungsmaßnahmen und Interventionen befördern.
- Die antiretroviralen Therapien haben zu einer deutlichen Verlängerung der Lebenszeit geführt. Menschen mit HIV haben heute oft eine annähernd normale Lebenserwartung und sind damit zunehmend auch von altersbedingten Erkrankungen betroffen. Die Zusammenhänge zwischen altersbedingten Veränderungen, HIV-Infektion und antiretroviraler Therapie und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen müssen dringend erforscht werden.
- Auch deutsche Studien weisen auf deutliche Defizite in der sozio-ökonomischen Situation von Frauen mit HIV hin. Besonders allein Erziehende sind von existenziellen Nöten und Armut betroffen. Die prekäre sozio-ökonomische Lage vieler HIV-positiver Frauen begründet auch die Forderung nach speziellen Ausbildungs- und Arbeitsplatzmodellen sowie die Evaluation entsprechender Maßnahmen.
- Frauen mit Flucht- und/oder Migrationshintergrund haben häufig einen besonderen Unterstützungsbedarf – sowohl in materieller als auch in medizinischer oder psychosozialer Hinsicht. Traumatisierung und Folgen genitaler Verstümmelung (FGM/C) werden im Rahmen der Behandlung häufig nicht berücksichtigt. Hier fehlen sowohl systematische Erhebungen als auch zielgruppenspezifische Konzepte der Diagnostik, Versorgung und Prävention.
- Auch im Jahr 2020 wurden ca. 35% der Neudiagnosen werden erst in einem späten Stadium der HIV-Infektion bei einem fortgeschrittenem Immundefekt und 18% erst im Stadium Aids gestellt. Frauen sind davon häufiger betroffen. Gezielte Fortbildungen sowohl im medizinischen als auch beraterischen System sind wichtig, um Frauen mit Testangeboten besser zu erreichen. Auch hier braucht es mehr Wissen um die Ursachen, um angemessene Präventions- und Versorgungskonzepte zu entwickeln.
Die Arbeitsgruppe AAWS will durch die Unterstützung von Forschungsprojekten und Studien und die Sammlung und Weitergabe von Informationen zur Vermehrung des Wissens um frauenspezifische Aspekte der HIV-Infektion beitragen.