Durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist es seit Ende Februar 2022 in ganz Europa zu Flüchtlingsbewegungen gekommen. Dadurch bedingt ist ein auch Versorgungsbedarf von Patient*innen aus der Ukraine entstanden. Besondere Bedeutung kommt hierbei chronischen Infektionskrankheiten zu, die in der ukrainischen Bevölkerung eine vergleichsweise hohe Prävalenz aufweisen. So lebten in der Ukraine bis zum Ausbruch des Krieges bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 41 Millionen geschätzt 260.000 Menschen mit einer HIV-Infektion.
Von Ende Februar bis Mai 2022 haben sich laut Ausländerzentralregister rund 610.000 Menschen aus der Ukraine in Deutschland registrieren lassen. Unklar ist bislang, wie viele von ihnen mit einer HIV-Infektion leben und sich bereits zur Weiterführung oder zum Beginn ihrer Therapie in einem entsprechenden deutschen Behandlungszentrum vorgestellt haben.
Die Deutsche AIDS-Gesellschaft (DAIG) hat mit Unterstützung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä) im Juni 2022 eine Online-Umfrage zur Versorgung von HIV-Patient*innen aus der Ukraine unter den Mitgliedern von DAIG und dagnä durchgeführt. Ziel der Befragung war es, die bisherige Anzahl und die regionale Verteilung der HIV-Patient*innen aus der Ukraine zu ermitteln.
Insgesamt 60 HIV-Schwerpunktzentren haben sich an der Umfrage beteiligt. Zwei der Zentren gaben an, dass sich bei ihnen seit Ende Februar 2022 keine ukrainischen Patient*innen vorgestellt haben. Unter den übrigen 58 teilnehmenden Zentren, die seit Ende Februar HIV-Patient*innen aus der Ukraine aufgenommen haben, waren auch drei pädiatrische Kliniken.
Die regionale Verteilung der HIV-Patient*innen aus der Ukraine auf die Behandlungszentren wurde anhand der Postleitzahl ausgewertet. Die meisten Patient*innen stellten sich in den PLZ-Bereichen 4 (Ruhrgebiet), 1 (Berlin), 6 (Rhein-Main-Gebiet) und 7 (Stuttgart und Freiburg) vor.
Die Umfrage der Deutschen AIDS-Gesellschaft vom Juni 2022 ergab eine maximale Zahl von rund 900 HIV-Patient*innen aus der Ukraine, die sich seit dem Beginn des Krieges in einem deutschen HIV-Schwerpunktzentrum vorgestellt haben. Bei einer HIV-Prävalenz von 1,1% in der Ukraine würde man bei mehr den als 600.000 Geflüchteten, die im Mai 2022 in Deutschland registriert waren, im Juni zum Zeitpunkt der Befragung eine deutlich höhere Zahl an Neuvorstellungen von HIV-Patient*innen erwarten. Da die Umfrage nur unter ausgewiesenen HIV-Behandlungszentren durchgeführt wurde, konnten Patient*innen, die sich ggf. in einer Praxis ohne HIV-Schwerpunkt zur Weiterführung einer Therapie vorgestellt haben, nicht erfasst werden. Zudem ist die Umfrage eine Querschnittsanalyse mit Stand Juni 2022 und kann die Dynamik in der Versorgung Geflüchteter nicht abbilden. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der HIV-Patient*innen aus der Ukraine, die sich in Deutschland zur Behandlung vorstellen, noch steigen wird. Viele der Patient*innen waren in der Ukraine mit einem Vorrat an HIV-Medikamenten für die Zeit ihrer Flucht versorgt worden, der es ihnen erlaubt hat, sich zunächst einmal um andere existentielle Dinge zu kümmern und erst danach ein Behandlungszentrum zu suchen.
Fazit: Die Zahl der HIV-positiven Menschen aus der Ukraine, die sich bis zum Juni 2022 in HIV-Schwerpunktzentren vorgestellt haben, liegt mit ca. 900 deutlich unter den Erwartungen. HIV-positive Menschen aus der Ukraine sind regional unterschiedlich auf Behandlungszentren in Deutschland verteilt. Es ist davon auszugehen, dass sich noch nicht alle Geflüchteten, die eine HIV-Therapie benötigen, ärztlich vorgestellt haben bzw. bislang nicht über HIV-Schwerpunktzentren, sondern durch Hausärzt*innen mit Medikamenten versorgt wurden. Wichtig ist in jedem Fall, dass eine nahtlose Versorgung mit HIV-Medikamenten und ein Monitoring des Therapieverlaufs für ukrainische Menschen mit HIV deutschlandweit gewährleistet sind.
Lesen Sie dazu auch einen Beitrag des Ärzteblatts